Der Roman "Flächenland" (1884)
von Edwin A. Abbott

128. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 08.11.2001 von Stefan Nehrkorn



Der Roman "Flächenland" (1884) des Briten Edwin A. Abbott

Abbott hat mit seinem Buch "Flächenland - ein mehrdimensionaler Roman, verfaßt von einem alten Quadrat" eine beißende Satire auf das viktorianische Zeitalter geschrieben. Durch die Verengung der Welt des Protagonisten (des alten Quadrats) auf zwei Dimensionen schärft Abbott den Blick für gesellschaftliche Schieflagen seiner Zeit. Seine Art der Beschreibung ist keine "Anleitung zum erkenntnistheoretischen Zweifel", sondern reich an ironischen Bildern und damit noch immer ein metaphorisches Schatzkästchen. Abbott schreibt:

"Stellt euch ein weitausgedehntes Blatt Papier vor, auf dem sich gerade Linien, Dreiecke, Quadrate, Fünfecke, Sechsecke und andere Figuren, anstatt an einem festen Ort zu bleiben, frei hin und her bewegen, jedoch ohne das Vermögen, sich darüber hinaus zu erheben oder darunter zu sinken, (...) und ihr werdet eine ziemlich exakte Vorstellung von meinem Land und meinen Landsleuten haben" (S. 13).

Alle Bewohner von "Flächenland" können fühlen, sehen und hören. Die gesellschaftliche Stellung drückt sich in verschiedenen geometrischen Formen aus: Die einfachen Linien sind die Frauen. Je mehr Seiten andere Figuren haben, desto höher ist ihre Stellung. Die Priester sind Vielecke, die in ihrer Perfektion nicht mehr von Kreisen zu unterscheiden sind. Flächenland ist schwarz/weiß, da die Priester, um Verwechslungen zu vermeiden, trickreich die Farbe verboten haben. Frauen sind in Flächenland gefährlich. Als Linien können sie von den Vielecken leicht übersehen werden und diese schwer verletzen. Deswegen sind die Linien gehalten, sich permanent zu bewegen und einen andauernden "Friedensruf" zu äußern.

Das "alte Quadrat" aus Flächenland sieht sich eines Tages einer Linie gegenüber, die es naturgemäß für eine Frau halten muß. Doch diese Linie sagt:

"Ich bin keine Frau, ich bin der Monarch der Welt. Doch du, woher dringst du in mein Reich "Linienland" ein" (S. 129).


"Linienland" ist eine Gesellschaft, die aus Linien und Punkten besteht, welche sich lediglich in einer Dimension vor und zurück bewegen - vergleichbar einer Perlenschnur. Das Quadrat versucht dem König (von Linienland) "Flächenland" anschaulich zu machen. Vor der Verhaftung flieht das Quadrat zurück nach "Flächenland".

An einem anderen Tag sieht das "alte Quadrat" zu Hause in Flächenland einen Kreis, dessen Umfang sich dauernd verändert, vergleichbar einem Ball, der mühelos durch ein Blatt Papier taucht. Es handelt sich um den Besuch einer Kugel aus "Raumland". Die Kugel schildert dem Quadrat die Welt der drei Dimensionen. Das Quadrat versteht diese Dimension nicht und wird von der Kugel nach "Raumland" entführt. Das weiterhin zweidimensionale Quadrat bekommt einen Einblick in die dreidimensionale Gesellschaft von "Raumland" und versucht, mit der Kugel über die Frage weiterer Dimensionen zu spekulieren. Die Kugel läßt sich darauf nicht ein und bringt das Quadrat nach "Flächenland" zurück. Hier versucht das Quadrat von seinen Erlebnissen zu berichten und wird ins Gefängnis gebracht! Unsicher, ob es wachte oder träumte schließt das Quadrat wie folgt:

"Prometheus wurde einst in Raumland gefesselt, weil er den Menschen das Feuer herabgebracht hatte, doch ich - armer Prometheus des Flächenlandes - liege hier im Gefängnis, weil ich meinen Landsleuten nichts herabgebracht habe. Doch lebe ich in der Hoffnung, daß diese meine Erinnerungen auf irgendeine Weise, ich weiß nicht wie, ihren Weg in die Gehirne der Menschheit irgendeiner Dimension finden und ein Geschlecht von Rebellen hervorbringen mögen, die sich weigern, sich in einer beschränkten Dimensionalität einschließen zu lassen" (S. 239).


Zitiert nach:
Abbott, Edwin A.: Flächenland - ein mehrdimensionaler Roman, verfaßt von einem alten Quadrat, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 1982
Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka


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